Vertrauen in der Pubertät: Wie Sie loslassen lernen.

Mit dem Beginn der Pubertät wandeln sich die Erziehungsbeziehungen zwischen Eltern und Kindern. Heranwachsende wollen mehr Selbstständigkeit, Eigenverantwortung, wollen Eigentätigkeit beweisen. Loslassen lernen ist für beide Seiten, die Kinder wie die Eltern, nicht leicht. 

Inhaltsverzeichnis

Pubertierende Jugendliche grenzen sich oft ab

Eltern spüren oft, dass sich pubertierende Jugendliche von ihnen distanzieren wollen:

„Wenn ich auf der Straße meinen Sohn treffe, der mit Freunden unterwegs ist“, so sagte mir eine Mutter neulich, „übersieht er mich glatt. ‘Ist das nicht deine Mutter?’, hat neulich einer seiner Kumpels gefragt. Und mein Sohn dreht sich kurz und sehr genervt um und meinte: ‘Ach ja. Is’ sie.’ Das irritiert mich schon.“

„Meine Tochter macht mich fürchterlich an, wenn ich mich chic anziehe und schminke“, klagt eine Mutter. „‘Du bist wohl in einen Farbkasten gefallen’, ist noch die mildeste Formulierung. Als ich neulich ein modisches Kleid trug, hat mein Sohn gemeint, ich sei doch sowieso jenseits von Gut und Böse.“

Manche Eltern haben das Gefühl, überflüssig zu sein. Einige fühlen sich erniedrigt und abgelehnt. Andere meinen, den Ablösungsprozess verhindern zu können – was sicherlich auch in manchen Fällen zutrifft. Die Handlungen und Haltungen von Heranwachsenden deuten viele Eltern als Rückzug ihrer allmählich erwachsen werdenden Kinder – und dabei schwingt gewiss ein Gefühl von Enttäuschung, Kränkung und Resignation mit.

Ziehen Sie sich in der Pubertät zurück, leidet die Beziehung zu Ihrem Kind

Auch wenn Sie zu Recht ehrlich beleidigt und verletzt sind – die elterliche Abwendung kann bei Ihrem heranwachsenden Kind zu Irritationen führen. Wer sich aus der Erziehung zurückzieht, zieht sich, zumindest in der subjektiven Einschätzung Ihres pubertierenden Kindes, auch aus der Beziehung zurück. Ihr Kind fühlt sich allein, ohne wirkliche Bindung. Halt- und Orientierungslosigkeit können die Folge sein. Das macht Jugendlichen Angst, verunsichert sie. Nicht selten versuchen Heranwachsende dann, durch störendes Verhalten Aufmerksamkeit auf sich und ihre Situation zu lenken. Sie schlagen so lange – verbal oder körperlich – um sich, bis ihnen die Aufmerksamkeit gewiss ist. Selbst negative Zuwendung, zum Beispiel in Form von Bestrafung, kann immer noch besser sein, als „links“ liegengelassen zu werden oder keinerlei Beachtung zu finden. Grenzüberschreitende Aktionen sind deshalb nicht selten Hilferufe, mit denen Pubertierende nach Beziehung und persönlicher, gelebter Autorität geradezu „schreien“.

Pubertierende Kinder loslassen bedeutet: Bleiben Sie erreichbar, haben Sie eine eigene Meinung und seien Sie Vorbild!

Pubertierende brauchen personale Vorbilder, die raten und beraten, die mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berg halten, die aber Rat und eine eigene Meinung nicht mit Kontrolle und Besserwisserei verwechseln. Der Pädagoge Pestalozzi hat das so ausgedrückt: Erziehung, das ist Vorbild plus Liebe. Eltern müssen durch konsequent liebevolles Handeln überzeugen und über eigene Lebenserfahrung verfügen, sie sollten Perspektiven vorleben können und Standpunkte nicht als ewig starre Markierungen verstehen. Auch der Pubertierende erweitert seine Handlungsräume, er wird mit vielfältigen Erfahrungen konfrontiert, er hat häufig die Qual der Wahl – und die überfordert manchmal, macht unsicher, sodass die Meinung der Eltern sehr wohl gefragt, ja manchmal sogar gewünscht ist, wie das folgende Beispiel zeigt:

Wichtig gerade in der Pubertät: Beratung statt Besserwisserei – Verantwortung zeigen statt Vorwürfe machen 

Die Mutter des 14-jährigen Arne erzählt, ihr Sohn wollte neulich zu einer Film-Session bei Freunden gehen. Sie hatten vor, sich ab 23.00 Uhr sechs Science-Fiction-Filme hintereinander anzusehen. Filme, die erst ab 16 zugelassen sind, und Arne wollte unbedingt dort hingehen. „Was mich stutzig machte“, so die Mutter, „war, dass er mich überhaupt fragte. Er hätte ja auch sagen können, er wolle bei seinem besten Freund übernachten, wo das Spektakel stattfand. Aber er fragte! Ich habe gesagt, ich müsse erst einmal nachdenken. Ich hatte spontan keine passende Antwort parat. Aber ich habe ihm auch gesagt, mir gefiele so ein Film-Abend überhaupt nicht. Beim Abendbrot hat Arne nochmals gefragt. Ich hatte mir in der Zwischenzeit eine Antwort zurechtgelegt.“

„Welche?“,will ich wissen. Sie lächelt: „Keine originelle, aber Sie schreiben ja, man solle keine perfekten Lösungen entwickeln. Wenn man keinen Schlüssel hat, tut’s manchmal auch ein Dietrich.“ „Und wie sah der Dietrich aus?“

„Ich habe Arne etwas über den Jugendschutz erzählt, darüber, dass ich eine Erziehungsverantwortung für ihn hätte und Filme, die erst ab 16 Jahren zugelassen sind, für ihn verboten wären.“

„Und wie hat Ihr Sohn reagiert?“

„Der akzeptierte das Argument auf Anhieb. Er rief einen seiner Freunde an, dass er nicht dürfe und zu Hause bleiben müsse.“

„Was, meinen Sie, ist der Grund dafür, dass Ihre Idee auf Anhieb funktionierte?“

„Ich glaube, er war ganz froh, dass er zu Hause bleiben durfte. Ihm war die Veranstaltung selbst nicht ganz geheuer. Er traute es sich aber wohl nicht, seinen Freunden das zu sagen. Mein Rat hat ihm die Qual der Wahl erleichtert!“ Sie macht eine Pause. „Aber wie soll man das vorher wissen? Es hätte auch schief gehen können!“

„Ist es aber nicht, weil Sie nicht besserwisserisch argumentiert haben und weil Arne sich verstanden fühlte. Sie sind ihm nicht mit Vorwürfen gekommen, sondern haben deutlich Ihre Erziehungsverantwortung angesprochen.“

Loslassen heißt: Vertrauen schenken und ermutigen

Jugendliche wollen elterlichen Rat und wünschen Beratung. Sie möchten nicht, dass man ihnen partout nach dem Mund redet, alles kritiklos und verständnisvoll hinnimmt, was sie sagen, denken und tun. Guter Rat bedeutet eben nicht, nur zuzustimmen. Produktiver, klarer und hilfreicher kann es sein, auch mal abzuraten. Aber die elterliche Position muss authentisch vertreten werden. Jugendliche anzunehmen, Verständnis für Handlungen und Meinungen zu entwickeln, darf nicht dazu führen, alles und jedes zu akzeptieren. Sagen Sie deutlich, dass Sie als Eltern Verantwortung für Ihr Kind haben und diese Verantwortung mitunter auch zu einem klaren Nein verpflichtet. Sprechen Sie Ihre Erziehungsverantwortung an, statt Vorwürfe zu machen. Manchmal wollen Pubertierende nicht einmal Verständnis, sondern provozieren absichtlich mit Witzen, menschenverachtenden Äußerungen oder Gewalt verherrlichenden Symbolen.

Loslassen heißt: Vertrauen schenken und ermutigen

Die 16-jährige Carina erzählt, sie habe seit ein paar Wochen ein eigenes Mofa, um damit morgens zu ihrer Lehrstelle zu fahren. Der Mutter sei der Kauf des Mofas überhaupt nicht recht gewesen. „Seit feststand, dass ich ein Mofa bekomme, hat sie ständig genervt: ‘Sei vorsichtig! Pass auf, dass bloß nichts passiert!’ Ich konnte das schon nicht mehr hören.“ Carina überlegt, sieht ihren Daumen an, der in einem Gipsverband steckt. „Hier ist das Ergebnis von diesem ewigen Gerede!“ 

Dann berichtet Carina, wie ihre Mutter sie jeden Morgen verabschiedet habe: „Carina, pass auf, sei vorsichtig. Du weißt, wie schnell etwas passieren kann!“ – „Und ich“, fährt Carina fort, „saß völlig verspannt auf dem Mofa. Ich hab nur gedacht, hoffentlich baust du keinen Unfall! Und dann ist es doch geschehen. Ich war wohl unaufmerksam, bin in den Graben gerutscht. Mein erster Gedanke war: Was werde ich wohl zu Hause zu hören bekommen!“ „Und was haben Sie gehört?“, frage ich. „Meine Mutter hat nur gesagt: ‘Siehst du, ich hab’s dir ja gleich gesagt!“ 

Solche Gespräche mit Pubertierenden machen deutlich, wie sehr diese sich von Eltern – insbesondere von den Müttern – durch ständige Ermahnungen verunsichern lassen. Das ewige „Pass auf!“ oder „Sei vorsichtig!“ lässt die Heranwachsenden nicht unbedingt selbstbewusster oder selbstsicherer werden. Im Gegenteil: Solche Sätze wirken verkrampfend. Ungewollt können solche Sätze gar zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung werden. Zweifelsohne ist Ihr pubertierendes Kind vielfältigen objektiven Gefahren ausgesetzt. Aber der ständige Hinweis auf mögliche Gefahren lässt diese nicht geringer werden – vor allem bietet er Ihrem Kind keinen Schutz.

Ihr Kind kann aber lernen, sich selbst zu schützen, sich in komplizierten Situationen selbstständig zu verhalten und sich zu behaupten. Hierzu müssen Sie Ihr Kind aber loslassen. Ihr heranwachsendes Kind handelt dann sicher, wenn Sie ihm ermutigende Wünsche mit auf den Weg in die Eigenständigkeit geben. Pubertierende brauchen das Vertrauen ihrer Eltern. Je fester das elterliche Vertrauen, umso größer ist das Ur- und Selbstvertrauen der Heranwachsenden, umso mutiger und selbstbewusster meistern sie komplexe Situationen. Unselbstständige, entmutigte und verunsicherte Jugendliche scheitern nicht nur öfter, sie sind auch häufiger Opfer und stärker von negativen Erlebnissen bedroht bzw. betroffen. Deshalb: Ermutigen Sie Ihre Kinder, schenken Sie ihnen Ihr Vertrauen!