Aggression gegen den eigenen Körper: Wenn Kinder sich selbst verletzen
Selbstverletzungen bei Kindern und Jugendlichen
Janine ist 15 Jahre alt. Bis zu ihrem zwölften Geburtstag war sie ein mehr oder weniger angepasstes Mädchen, wie sich ihre Eltern erinnern. Sie erschien freundlich, hilfsbereit, ging auf andere andere zu. Ihre schulischen Leistungen waren überdurchschnittlich. „Doch mit dem 13. Lebensjahr, da ging es los“, erzählen die Eltern. Eines Tages – sie war 14 – entdeckten die Eltern ein Bauchnabel-Piercing. Janine hatte ihre Eltern nicht um Erlaubnis gefragt. Sie hatte es heimlich machen lassen. Da es unprofessionell gemacht war, entzündete sich der Bauchnabel. Janine wurde ziemlich krank. Nachdem sie gesund war, erklärte sie ebenso bestimmt wie trotzig, sie werde sich ein Neues machen lassen, nur nicht so schnell. Die Mutter atmet tief aus. „Aber völlig durcheinander waren wir, als wir merkten, dass Janine sich den rechten Unterarm mit einem Messer geritzt hatte.“ Janine trug die Wunden, die sie sich, wie sie später berichtete, im Kreis von zwei Freundinnen selbst zugefügt hatte, ganz offen zur Schau. Das sei eine Mutprobe gewesen, kommentiert sie. Einige Freundinnen hätten Angst davor gehabt, andere hätten es cool gefunden. Doch wie ist nun Janines aggressives Verhalten zu verstehen?
Wie kommt es zu selbstverletzendem Verhalten?
- Selbstverletzungen können – Janine beweist es – jugendkulturell geprägt sein. Janines selbstverletzendes Verhalten ist ein symbolischer Akt. Sie geht offen mit ihrem Piercen und ihrem Ritzen um. Janine zeigt es allen, sie provoziert, sie grenzt sich ab, sie macht auf sich aufmerksam. Piercen und Ritzen stellen wie das Tattooing oder andere Schnittverletzungen eine Art Aufnahmeritus dar, wie er in vielen Kulturen üblich ist: Wenn man diese Zeichen hat, gehört man dazu, man stellt Gemeinsamkeiten her.
- Zudem macht man durch den selbstverletzenden Akt eine ganz eigene körperliche Erfahrung. Die Jugendlichen gehen dabei an die Grenze dessen, was gerade noch auszuhalten ist. Piercen und Ritzen sind mit Angst, mit dem Aushalten von Schmerzen verbunden – doch wer das einmal ausgehalten hat, der ist aufgenommen. Je vehementer die Eltern die Selbstverletzungen bekämpfen, je entschiedener sie sie ablehnen, umso intensiver wird die Abgrenzung von der elterlichen Kultur erlebt und empfunden.
- In körperlichen Selbstschädigungen kann sich aber auch ein psychisches Problem, eine extreme seelische Zwangslage, ausdrücken. Selbstverletzenden Handeln kann so zum Beispiel Ausdruck einer übermächtigen inneren emotionalen Spannung sein, ebenso wie der ohnmächtige Versuch, sich zu fühlen und zu spüren. Selbstverletzungen können Machtausübung über den eigenen Körper ebenso darstellen, wie das Bestreben, Kontrolle über sich zu erlangen.
- Selbstverletzungen gehen meist mit extremen Minderwertigkeitsgefühlen, mit Selbsthass und mit Perspektivlosigkeit einher. Wut und Zorn auf andere werden auf sich und gegen sich selbst gerichtet. Wird bei diesem Akt der Selbstverletzung nicht therapeutisch interveniert, sondern wird er nur unterbunden, kommt es oft zu Symptomverschiebungen, zum Beispiel zu depressiven Stimmungen, Essens- und Trinkverweigerung oder Suiziddrohungen.
Mein Rat: Achten Sie nicht allein auf die nach außen gerichteten, sondern auch auf die nach innen gerichteten Aggressionen Ihres Kindes und wenden Sie sich an eine Erziehungsberatungsstelle, wenn Sie allein nicht weiterkommen.