„Hilfe, ich kann mein Kind nicht loslassen!“

Schwierigkeiten mit Jugendlichen entstehen manchmal, weil es den Eltern schwerfällt, deren zunehmende Unabhängigkeit zu akzeptieren und zu fördern. In diesem Beitrag finden Sie Tipps und Anregungen, wie Sie mit Schwierigkeiten beim Loslassen konstruktiv umgehen können und wann es sinnvoll ist, sich professionelle Hilfe zu holen. 

Inhaltsverzeichnis

Eltern-Kind-Beziehung in der Pubertät

Die Pubertät ist ein komplexer und störanfälliger Prozess, der nicht nur die Jugendlichen oft in Bedrängnis bringt. Auch Eltern werden in dieser Lebensphase mit den unterschiedlichsten Gefühlen konfrontiert. Ob Wut auf den Nachwuchs, unangenehme Erinnerungen an die eigene Pubertät oder merkwürdige Verlustängste: Teenager lösen viele Emotionen aus, und manchmal haben Erwachsene daran heftig zu knabbern. Manche Eltern merken jetzt auch, dass es ihnen schwerer fällt, ihr Kind groß werden zu lassen, als sie vielleicht gedacht hatten. Sie verhalten sich womöglich überbehütend oder versuchen mit anderen Mitteln, ihr Kind weiterhin stark an sich zu binden oder unter Kontrolle zu behalten. Das bringt für Jugendliche mitunter Schwierigkeiten mit sich, weil es ihrem entwicklungsbedingten Bedürfnis nach Freiraum und Autonomie widerspricht. So wie Jugendliche in dieser Phase lernen müssen, Eigenverantwortung zu übernehmen, müssen Eltern lernen, mit ihren Ängsten, Sorgen und Verlustgefühlen klarzukommen. Das fällt manchen Eltern nicht so leicht. Hier ein Beispiel:

Frau B. sitzt in der Beratung und weint herzzerreißend: „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, wenn Jenny mal ausziehen wird. Jahrelang drehte sich mein ganzes Leben nur um sie, ich habe alles, wirklich alles für sie getan, und nun will sie von mir nichts mehr wissen. Das tut so weh!“, schluchzt sie. Jenny sitzt daneben und schaut geknickt auf den Boden. Nach ihren Gefühlen befragt, sagt sie: „Einerseits tut Mama mir ja leid, weil sie so unglücklich ist. Auf der der anderen Seite nervt es mich auch, dass ich deshalb auf mein eigenes Leben verzichten soll. Sie soll endlich mal ihr eigenes Leben leben, statt sich immer nur an mich zu klammern!“

Jenny bringt klar auf den Punkt, was Jugendliche empfinden, wenn sie spüren, dass ihre Eltern sie nicht loslassen können. Einerseits sind sie versucht, Rücksicht zu nehmen, weil sie ihre Eltern nicht verletzen und sich loyal verhalten wollen. Andererseits überfordert es sie aber auch, weil sie unabhängig werden und ihr eigenes Leben leben wollen. Jenny steckt also in einem Dilemma: Wenn ihre Mutter nicht aufhören kann, das Erwachsenwerden ihrer Tochter als emotionale Bedrohung zu erleben, wird es für Jenny immer schwieriger werden, sich liebevoll von ihrer Mutter zu emanzipieren. Je nach Charakter wird sie dann entweder alle Autonomiebestrebungen einstellen und auf ein eigenständiges Leben mehr oder weniger verzichten. Oder sie wird sich radikal abwenden und möglicherweise den Kontakt sogar dauerhaft abbrechen. Um Jenny aus diesem massiven Loyalitätskonflikt zu befreien, muss Frau B. sich mit ihren eigenen Gefühlen und Erfahrungen auseinandersetzen. Wie kommt es, dass es ihr so besonders schwer fällt, ihre Tochter autonom werden zu lassen? Oft haben diese Gefühle etwas mit den eigenen Kindheitserlebnissen zu tun. Das kann etwa der frühe Verlust eines geliebten Menschen durch Trennung bzw. Tod sein oder aber eine nicht ausreichende emotionale Bindung an eine Bezugsperson, die schon sehr früh zu massiven Verlustängsten geführt hat.

5 Faktoren, die das Loslassen erleichtern

Im Verlauf der Beratung konnte Frau B. diesen Zusammenhang erkennen und ihre eigenen schwierigen Kindheitserfahrungen bearbeiten und betrauern. Sie sah ein, dass Jenny nicht die richtige Person war, um ihre eigenen Bedürfnisse nach Kontakt und Nähe zu stillen. Nach und nach konnte sie Jenny so besser loslassen. Jenny war dadurch in zweierlei Hinsicht entlastet: Erstens wusste sie, dass die Mutter sich um sich selbst kümmert und dass sie Hilfe bekam – sie fühlte sich nicht mehr für die Befindlichkeit ihrer Mutter zuständig. Und zweitens konnte Jenny sich besser um sich selbst kümmern, da sie nun verstand, dass das Verhalten der Mutter nicht wirklich etwas mit ihren Autonomiebestrebungen zu tun hatte, sondern in deren Biografie wurzelte. Das Verhältnis von Jenny und Frau B. entspannte sich zunehmend, und Jenny hatte immer seltener ein schlechtes Gewissen, wenn sie sich nicht um ihre Mutter kümmerte. Sich professionelle Hilfe zu holen, war kein Zeichen von Schwäche oder Unfähigkeit von Frau B., sondern – im Gegenteil von Verantwortungsbewusstsein und Liebe zu ihrer Tochter. Sie spürte intuitiv, dass sie es Jenny mit ihrem Verhalten schwer machte, erwachsen zu werden, und wollte ihrer Tochter nicht im Weg stehen.

5 Faktoren, die das Loslassen erleichtern

Erfahrungsgemäß fällt es Eltern leichter, ihre Kinder loszulassen, wenn

  1. sie andere wichtige Bezugspersonen haben (z. B. eine befriedigende Ehe oder Partnerschaft führen, gute Freunde und einen netten Bekanntenkreis haben etc.),
  2. sie ihr Leben auch jenseits der Kindererziehung interessant finden, etwa durch einen guten Job oder Hobbys,
  3. sie Vertrauen in die Fähigkeiten des Kindes haben und fest davon überzeugt sind, dass es „fit“ für die Welt wird und sich einigermaßen behaupten wird,
  4. die Beziehung zwischen Kind und Eltern vertrauensvoll und frei von emotionalen Verstrickungen ist,
  5. sie selbst positive Abgrenzungserfahrungen mit ihren Eltern machen konnten.
Mein Tipp
Überlegen Sie, welche Punkte auf Sie zutreffen und wo es hapert. Vermissen Sie vielleicht eine interessante Aufgabe im Job oder eine gute Freundin? Dann versuchen Sie, dieses Ziel zu erreichen. Ihr Kind wird irgendwann aus dem Haus gehen, und dann ist es gut, die eigenen Interessen rechtzeitig vorangetrieben zu haben.

5 Fragen, die Sie sich stellen sollten, wenn Ihnen das Loslassen sehr schwerfällt

Wenn Sie das Gefühl haben, dass es Ihnen sehr schwer fällt, Ihr Kind unabhängig werden zu lassen, sollten Sie sich mit folgenden Themen auseinandersetzen:

  1. Prüfen Sie, ob Sie unter Verlustängsten leiden. Wenn ja: Was ist Ihre schlimmste Sorge? Ist sie realistisch? Und wo könnte sie ursprünglich herkommen?
  2. Wie gehen Sie insgesamt mit Abschied und Trennung um? Was für Gefühle lösen diese Begriffe in Ihnen aus? Wie ist man in Ihrer Herkunftsfamilie damit umgegangen?
  3. Beziehen Sie aus der Erziehung Ihres Kindes sehr viel Bestätigung und das Gefühl, besonders wichtig zu sein? Woher bekommen Sie noch Bestätigung in Ihrem Leben?
  4. Wie geht es Ihnen derzeit in Ihrer Partnerschaft? Manchmal klammern sich Elternteile emotional an einen Jugendlichen, wenn sie in der Ehe frustriert sind. Prüfen Sie, ob das auch bei Ihnen so ist, und treffen Sie in diesem Fall entsprechende Maßnahmen (z. B. Probleme ansprechen, eine Paarberatung aufsuchen etc.) Ein Kind sollte keinesfalls ein Ersatzpartner sein. Das ist seiner Entwicklung sehr hinderlich, da emotional überfordernd.
  5. Was bräuchten Sie, um das Loslassen Ihres Kindes besser bewerkstelligen zu können?
Mein Tipp
Wenn Sie bei diesen Fragen allein nicht weiterkommen oder sie in Ihnen Trauer hervorrufen, sollten Sie sich psychologische Hilfe holen. Es kann sowohl für Sie selbst als auch für Ihr Kind eine große Entlastung bedeuten, wenn Sie sich mit diesen Themen beschäftigen.
Übrigens
Ein Kind gut oder weniger gut loslassen zu können, hat nichts mit dem Grad der Zuneigung zu dem Kind zu tun: Wer sein Kind schlecht ziehen lassen kann, liebt es nicht unbedingt mehr als ein Elternteil, das damit keine Probleme hat! Und umgekehrt ist eine Mutter, die keine Probleme hat, ihr Kind in die Welt hinauszuschicken, keinesfalls eine „Rabenmutter“!

5 Tipps: Was Sie tun sollten, wenn das Kind riskant lebt oder sich an Sie „klammert“

Wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie zwar loslassen können, aber Ihr Kind sich an Sie „klammert“, oder wenn Sie das Gefühl haben, dass Sie Ihr Kind nur deshalb noch nicht loslassen können, weil es sich unreif oder riskant verhält, dann sollten Sie folgende Überlegungen anstellen:

  1. Was könnte ich tun, damit sich mein Kind anders verhalten muss, als es das jetzt tut? Wie könnte ich sein Verantwortungsbewusstsein stärken?
  2. Was hat mein Kind davon, dass es so an mir „klebt“? Hat es möglicherweise Angst? Wenn ja, wovor?
  3. Was habe ich (emotional) davon, dass mein Kind und ich so eng miteinander verbandelt sind?
  4. Habe ich möglicherweise Angst um mein Kind und übertrage das unbewusst auf es? Woher könnte diese Angst kommen? Habe ich selber etwas Schlimmes erlebt, als ich im Alter meines Kindes war?
  5. Welche Eigenschaft meines Kindes ist mir besonders vertraut? Was bindet mich emotional am meisten an mein Kind?

Sich um jemanden Sorgen zu machen, ist übrigens nicht nur Ausdruck von Liebe und Fürsorge, sondern manchmal auch ein starkes Mittel, um jemanden an sich zu binden. Wenn Sie sich aber besonders viele Sorgen um Ihr Kind machen, kann das seine Entwicklung einschränken. Überlegen Sie sich in diesem Fall, woher diese Sorgen kommen, ob Sie tatsächlich berechtigt sind und unter welchen Umständen Sie von ihnen ablassen könnten.