Lernstress in der Pubertät: Woher kommt er?
Stress war vor vielen Tausenden von Jahren überlebenswichtig, damit die Menschen zum Beispiel beim Angriff eines Säbelzahntigers sofort flüchten oder kämpfen konnten. Unter Stress verändert sich auch heute noch einiges im Körper: Atmung und Puls werden schneller, das Blut wird dickflüssiger, die Körpertemperatur steigt, die Muskeln spannen sich an, das Gefühl, aufs Klo zu müssen, setzt ein – und leider setzt auch manchmal das Denken aus.
Gestresste Teenager
Auch heute gibt es noch Situationen, in denen wir besonders schnell und spontan handeln müssen, um Gefahren abzuwenden. Stellen Sie sich zum Beispiel vor, Sie stehen auf einer Straßenkreuzung und sehen plötzlich, wie ein Auto auf Sie zurast. Wenn Sie lange überlegen würden, in welche Richtung Sie am besten springen sollten, um sich zu retten, wäre es wahrscheinlich schon zu spät. Deshalb schaltet sich in solchen Momenten das Denken ab: Ihre Muskeln spannen sich an und Sie springen „automatisch“ zur Seite.
Je größer das Stressgefühl in einem solchen Moment ist, desto stärker wird auch das Denken blockiert. Dafür verantwortlich ist unter anderem das Hormon Adrenalin. Bei manchen Extremsportarten versetzen sich die Sportler aufgrund der hohen Adrenalinproduktion des Körpers beinahe in einen Rausch – das Denken wird ausgeschaltet, und sie fühlen sich richtig „high“.
Das ist so zu erklären: In Stresssituationen produziert der Körper das Hormon Adrenalin und schickt es ins Gehirn. Dort sorgt es dafür, dass die Verbindungen zwischen den Nervenzellen im Gehirn blockiert werden und damit das Denken unmöglich gemacht wird.
Ärgerlich ist natürlich, dass das Denken Ihres pubertierenden Kindes nicht nur blockiert wird, wenn es in körperlicher Gefahr schwebt, sondern auch dann, wenn es zum Beispiel vor einer Klassenarbeit Stress hat. Während einer Klassenarbeit kann das Denken ebenfalls blockiert werden, und Ihr Kind weiß gar nichts mehr. Später, wenn die Stresssituation vorbei ist, fällt ihm dann unter Umständen alles wieder ein – nur ist es jetzt leider zu spät.
Die drei wichtigsten Gründe, warum Pubertierende in die Lernstress-Falle geraten, möchten wir Ihnen vorstellen.
Grund 1 für Stress in der Pubertät: Physische und psychische Veränderungen
in der Pubertät Bauarbeiten an Hirn, Hormonen und Herz versetzen Ihr Kind während der Pubertät in einen umfassenden Ausnahmezustand. Das Gehirn verändert sich in der Pubertät mehr als bislang angenommen. Die Substanz der Großhirnrinde erlebt nun einen großen Wachstumsschub. Dabei entstehen unzählige neue neuronale Verschaltungen. Das Gehirn gleicht während der Pubertät eher einer Großbaustelle als einem strukturierten Denkapparat.
Die Regionen des pubertierenden Gehirns entwickeln sich unterschiedlich schnell
Relativ bald wiederhergestellt sind die Gehirnbereiche, die für Wahrnehmung und Bewegung zuständig sind. Die Umbauarbeiten in den Arealen, die für Sprache sowie für zeitliche und räumliche Orientierung verantwortlich sind, dauern hingegen erheblich länger. Es wird vermutet, dass die Umbauarbeiten im Präfontalhirn bis zum 20. Lebensjahr andauern können. Von diesen länger andauernden „Bauarbeiten“ betroffen sind verschiedene Fähigkeiten, beispielsweise:
- Die Fähigkeit Prioritäten zu setzen (z.B. „Mache ich erst meine Hausaufgaben, oder verabrede ich mich erst zum Fußballspielen?“).
- Die Fähigkeit zur Planung. Vorausschauende zeitliche und inhaltliche Planungen für anstehende Klassenarbeiten, Tests oder andere Aufgaben fallen Ihrem Kind schwer. Auch Pünktlichkeit kann zum Problem werden.
- Die Bewertung von Signalen (z.B. Mutter genervt: „Bitte bring jetzt den Müll raus! Hast du das verstanden?“ Sohn: „Ja, irgendwie schon?!“).
- Die Deutung von Emotionen. Die Geschwindigkeit, mit der Pubertierende die Gefühle anderer Menschen erkennen, ist um bis zu 20 Prozent reduziert.
- Die Unterdrückung von Impulsen. Ihr Kind reagiert – anders als später der erwachsene Mensch – spontan und instinktiver.
- Das Nachdenken über Handlungskonsequenzen. Da in der Pubertät das Verhalten Ihres Kindes noch mehr vom „Bauch“ als vom Kopf gesteuert wird, fällt es ihm schwer, die Folgen seines Handelns im Vorhinein abzuwägen.
- Das Abschätzen und Erkennen von Gefahren. Das hirneigene Belohnungssystem ist in der Pubertät oft träger als beim Erwachsenen. Ihr Kind benötigt also möglicherweise einen wesentlich höheren Reiz, um einen vergleichbaren Kick zu erleben wie ein Erwachsener. Das statistische Unfallrisiko ist daher aufgrund von Fehleinschätzungen in der Pubertät vergleichsweise hoch.
Da diese Fähigkeiten jedoch gerade in der Schulzeit erwartet werden, entsteht Stress, wenn die Pubertierenden diesen Erwartungen nicht gerecht werden: von Eltern, Lehrern oder durch schlechte Leistungen.
Bedingt durch diese Umbauarbeiten im Gehirn, haben viele Jugendliche Probleme mit dem Einschätzen und Planen von Zeit. Ebenfalls schwieriger erscheint das Planen und Strukturieren gerade vor Prüfungen. Aus diesem Grund geben wir Ihnen in den Beiträgen auf Seite 5 bis 10 eine Menge Tipps und Hilfen zum Thema Zeitmanagement und Vorbereitung auf Klassenarbeiten.
Grund 2 für Stress in der Pubertät: Überhöhte Erwartungen und Leistungsdruck
Eine Untersuchung der Leuphana-Universität Lüneburg im Auftrag der Krankenkassen kommt zu dem Ergebnis, dass fast jeder dritte Schüler zwischen 11 und 18 Jahren an depressiven Verstimmungen leidet. Die Studie zeigt einen deutlichen Zusammenhang zwischen starkem Leistungsdruck und dem psychischen Leiden. Am stärksten betroffen sind hiervon Schüler der Haupt- und Realschulen. Regelrechte Schulangst ist dafür eindeutig unter Gymnasiasten verbreiteter. Über 80 Prozent, so schätzen Experten, haben Angst davor, den Ansprüchen des Gymnasiums und vor allem ihrer Eltern nicht gerecht werden zu können. Wenn man bedenkt, dass sich 60 Prozent aller Eltern für ihr Kind das Abitur wünschen, aber höchstens 30 Prozent eines Jahrgangs es tatsächlich schaffen, wird deutlich, dass die übrigen, in die Real- und Hauptschulen abgewanderten Schüler das als dauerhafte Demütigung empfinden – auch das ist Stress!
Lernstress durch fehlende Motivation
Den Zustand vollkommener Konzentration, Motivation und Begeisterung beschreiben die Motivationsexperten als „FLOW“. Er wird erreicht, wenn ein Mensch ganz und gar in einer Tätigkeit oder Aufgabe „aufgeht“. Voraussetzungen dafür sind, dass die gewählten Herausforderungen bzw. Ziele den persönlichen Fähigkeiten entsprechen.
Wie Sie sehen können, ist Ihr Kind dann nicht im FLOW, wenn die Herausforderungen zu hoch oder zu niedrig sind. Die Folge zu hoher Herausforderungen ist Überforderung, die schnell zu Stress, Angst und Frustration führen kann. Das ist etwa dann der Fall, wenn Ihr Kind bessere Noten schreiben muss, um beispielsweise die Versetzung zu schaffen, jedoch (noch) nicht über die nötigen Fähigkeiten verfügt, dieses Ziel zu erreichen. Oder Sie als Eltern legen die Messlatte viel zu hoch für Ihr Kind.
Auch zu niedrige Herausforderungen führen nicht zum Idealzustand FLOW. Durch die damit verbundene Unterforderung entsteht Langeweile. Chillen ist für Pubertierende zwar eine hin und wieder gern gewählte Tätigkeit, jedoch als Dauerzustand alles andere als motivationsfördernd.
Stress ist nicht gleich Stress in der Pubertät!
Der Erfinder des FLOW-Konzepts, der ungarisch-amerikanische Psychologe und Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi, hat in seinen Studien herausgefunden, dass der Glückszustand FLOW dann besonders hoch ist, wenn man sich Herausforderungen stellt, die man mit seinen Fä- higkeiten gerade noch erreichen kann. Er fordert somit, an seine persönlichen Grenzen zu gehen, was auch mit Einsatz und Anstrengung verbunden ist. Dabei entsteht unter Umständen ebenfalls jede Menge Stress, der aber als wichtig und positiv empfunden wird. Diesen positiven Stress benötigen wir, um Höchstleistungen vollbringen zu können.
Grund 3 für Stress in der Pubertät: Anhaltende Misserfolge – Angst vor schlechten Noten
Versagensängste und Selbstzweifel sind weitere große Stressauslöser bei Pubertierenden. Aufgrund schlechter Leistungen bekommen manche Teenager bereits beim bloßen Gedanken an eine Klassenarbeit ein flaues Gefühl im Magen. Einige Schülerinnen und Schüler befinden sich durch Prüfungen und schlechte Noten im Dauerstress und sind im schlimmsten Fall schon in folgendem Teufelskreis gefangen:
Natürlich gibt es noch weitere Ursachen für (Lern-)Stress in der Pubertät. Vor allen Dingen sind es Konflikte in der Schule mit Lehrern und Mitschülern, aber auch Konflikte zu Hause, die den Stresspegel bei Ihrem pubertierenden Kind ansteigen lassen können. Zu diesem Thema haben wir im Sonderheft „Konfliktmanagement“ Eltern viele Hilfen und Anregungen gegeben. Der folgende Beitrag soll Sie nun bei der Beantwortung der Frage „Wie gestresst ist mein pubertierendes Kind?“ unterstützen.